Das Schloß – CHRONOTOPIE

Der Begriff Chronotopos entstammt der Literaturwissenschaft. Chronotopoi charakterisieren den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Verlauf einer Erzählung. Ein Ort (ein Zeit-Ort) generiert Handlung. Ort und Zeit bilden eine (erzählerische) Symbiose. Wie in der klassischen Malerei ist auch hier nicht nur das Bild selbst ein Ort, sondern auch ein Fenster zu einem Ort, einem Raum, den wir durch diesen rechtwinkeligen Rahmen sehen, als Fiktion, als perspektivische Illusion oder als ein Feld von Zeichen und Symbolen. (Das Tafelbild ist ein transferierbarer Ort, handelbar, im Gegensatz zur ortspezifischen Kunst, wo Kunstwerk und Ort eine Einheit bilden.) Es gibt keine Chronologie in der Malerei wie im Film, in der Literatur oder in der Musik, wo Dauer und Abfolge die Perzeption bestimmen. Die Zeitform der Malerei ist die Vergangenheitsform. Ihr Geschehen drückt sich durch Farbspuren aus. Das Geschehen wird ablesbar. Man kann es bei der Entstehung mitverfolgen oder beobachten, dann ist es für immer vorbei, aufgetrocknet. Wir blenden es aus, dass unser Auge schon seit einiger Zeit über die Bildfläche wandert, weil die Formen auf der Bildfläche nebeneinander, quasi gleichzeitig angeordnet sind, keine vorgeschriebene Chronologie bilden, und eine Art freie Montage den Zusammenhang herstellt.

In der Serie Das Schloß werden reale Schlösser Böhmens, gemalt nach alten Fotografien aus den 1920er Jahren, mit Passagen aus dem Roman Das Schloß von Franz Kafka kombiniert. Diese Textpassagen sind so gewählt, dass keine handlungstragenden Passagen sondern aphoristische Passagen im Bild stehen, und somit ein Bild im Bild, ein sprachliches Bild in einem gemalten zu sehen bzw zu lesen ist. In einigen Bildern steht das sprachliche Bild alleine auf der Malfläche. Der sprachliche Bildcharakter tritt damit hervor. Die Perspektive eines Bildraumes verschwindet bzw. ist nur noch durch den Bildträger Leinwand suggestiv vorhanden. In anderen Bildern verschwindet der kleine Text vor dem übergroßen Schloß. Durch das Schwarz-Weiss der Bilder und die ephemere Malerei erscheinen die Schlösser hinfällig und der Vergangenheit anzugehören. Die Malerei ist mit dem Herabrinnen der Farbe, das durch Auslöschen, Wegspritzen und Vermalen entsteht, konzipiert.

Die Malerei ist mit dem Herabrinnen der Farbe, das durch Auslöschen, Wegspritzen und Vermalen entsteht, konzipiert. Die dadurch entstehende Vertikalität der Formen ist den Zeilen der serifenbetonten Schrift gegenübergestellt. Die Serifen und die anderen typografischen Elemente, die handschriftlich die Typografie einer Schreibmaschine imitieren, entsprechen irgendwie dem Charakter der Protagonisten im Raoman. Die Handlung in Kafkas Roman ist zäh, kaum wahrnehmbar stockt sie in einem fort. Entsprechend dieser Langsamkeit, und der langsamen Schrift im Bild steht die Größe der Hoffnung im Protagonisten K. und einigen anderen Personen des Romans. Sie blenden das Scheitern ihrer Anliegen dem Schloß und seinen Beamten gegenüber aus und schöpfen Hoffnung, obwohl fast nichts die Erfüllung dieser Hoffnung zu versprechen scheint. Diese Verhinderung zieht sich durch den ganzen Roman und findet keine Auflösung. Der Roman lässt sich  auch ohne seine Chronologie lesen, die Erwartungshaltung und der Spannungsbogen bilden sich im Kleinen wie im Ganzen: Eine grosse Metapher der Intransparenz, die sich auf die Gegenwart übertragen lässt. Eine paradoxe Situation, in der Hoffnung durch Verhinderung entsteht. Die Chronotopie des Romans: Das Schloß repräsentiert strukturelle Macht und verhindert die Handlungen der Antragsteller, und erzeugt dadurch umso grössere Hoffnungen und neue Handlungsstrategien seitens derselben.